»Denken ohne zu wissen, Denken ohne Wissen«

// aus dem Französischen von Julika Betz

 

Ich möchte mich zunächst ganz herzlich bei Franziska Humphreys und den Organisatoren dieses Workshops für die Einladung bedanken, in diesem universitären Kontext sprechen zu dürfen. Für mich, der selbst nie wissenschaftlich gearbeitet hat, jedoch seit einigen Jahren fast ausschließlich von der Übersetzung wissenschaftlicher Arbeiten lebt, wie Naturphilosophie von Paul Feyerabend, Der moderne Denkmalkultus von Alois Riegl oder Philosophie der Mode von Georg Simmel, aber auch von Zeitgenossen wie Hans-Jörg Rheinberger sowie anderer Forscher des Max-Planck-Instituts, ist es ein ganz besonderer Anlass, mein Wort an ein akademisches Publikum zu richten. Ich muss mich oft genug von meiner Fähigkeit, ein guter Übersetzer zu sein, selbst überzeugen, mir einreden, dass meine mangelnde Erfahrung im wissenschaftlichen Arbeiten kein Hindernis darstellt bei der Übersetzung dieser Texte, also Ihrer Forschungsarbeiten.

Mit der Zeit und dank ähnlicher Gelegenheiten wie der heutigen, über meine Praxis als Übersetzer zu reflektieren, bin ich zu der Einsicht gelangt, dass das Übersetzen eine Art „Denken ohne zu wissen“ ist. Oft war ich überrascht, dass ich mich nach der Fertigstellung einer Übersetzung kaum mehr an die einzelnen Sätze erinnern konnte, die ich formuliert hatte, so als wäre ich von einem Text durchdrungen worden, angetrieben von dem ihm zugrunde liegenden Denken, bevor ich wieder zu mir selbst zurückfand. Selten habe ich mich als Übersetzer dem Text von außen genähert, wie es der Fall bei einer Textanalyse ist oder dem oft bemühten Bild des Fährmanns, der über-setzt; vielmehr habe ich bewusst die Haltung eines Interpreten eingenommen, der sich ganz auf die Bewegungen des Textes einlässt, auf das Zusammenspiel der Sätze und seine syntaktischen Windungen.

Wenn ich von „Denken ohne zu wissen“ spreche, möchte ich keineswegs eine Lanze brechen für die Unkenntnis oder Arglosigkeit gegenüber eines Textes, noch seiner historischen Einbettung. Bei wissenschaftlichen Texten, und das gilt insbesondere für die Geistes- und Sozialwissenschaften, bewegt sich der Übersetzer in einem streng festgelegten lexiko-kulturellen Kontext: einem mehrsprachigen und mehrschichtigen Kontext, in dem sich die aufeinanderfolgenden Übersetzungen großer Konzepte und, bedingt durch diese Übersetzungen, deren spätere Abwandlungen und Verzweigungen, überlagern. Das betrifft nicht nur die Neuübersetzungen von Hegel oder Freud, ganz im Gegenteil; sobald man einen Teil des Gesamtgerüstes ändert, hat dies gezwungenermaßen die Anpassung der anderen Teile zur Folge. Das ist ein absolut gängiges Phänomen in der Praxis eines Übersetzers. Ein Phänomen, welches voraussetzt, dass jeder fremdsprachige Text immer aufs Neue in die Übersetzungskultur der jeweiligen Zielsprache eingebettet werden muss, teilweise auf die Gefahr hin, sich zu verselbständigen. Ich denke da etwa an die Begriffe Aufhebung oder Zusammenhang, deren Übersetzungshistorie so umfangreich ist, so erdrückend, dass sie nicht selten die Rezeption beeinträchtigt. Als Übersetzer ist man gleichermaßen Zuschauer und Akteur dieser saisonalen Migration der Konzepte innerhalb der Sprachen, einer Migration der speziellen Art, denn bei jeder Neuübertragung in eine andere Sprache verwandeln, entwickeln sich die Konzepte. Die Kenntnis des epistemischen Kontexts, der Konzepte und ihrer historischen Übersetzung entsteht aus der Erfahrung mit Texten. Dies ist Übersetzung, Interpretation und Wissenschaft gemeinsam.

Doch um die Wissensform zu beschreiben, die speziell für die Übersetzung eines wissenschaftlichen Textes notwendig ist, könnte man von einem „passiven Wissen“ einem „impliziten Wissen“ sprechen, so wie man beim Erwerb einer Fremdsprache zwischen „aktivem“ und „passivem“ Wortschatz unterscheidet. Das führt mich zum Begriff der Erfahrenheit. Bei diesem von Ludwig Fleck geprägten Ausdruck geht es nicht allein um die gelebte Erfahrung, die uns dazu befähigt, ein Werk, einen singulären Gegenstand oder eine spezielle Situation einzuschätzen und ein Urteil darüber zu fällen. Die Erfahrenheit ist vielmehr das, was uns erlaubt, diese Einschätzungen und Urteile in den Schaffensprozess einzubringen, gewissermaßen mit Hilfsmitteln zu denken, mit den Händen. Erfahrung ist ein intellektueller Gewinn, während Erfahrenheit, die erworbene Intuition, eine Form des Handelns und eine Denkweise darstellt.

Dieser Zustand der Vertrautheit mit seinem Gegenstand, im konkreten Fall dem Textfluss, stellt sich im Laufe der Texte, im Laufe einer jeden Übersetzung, ein. Er kann nie endgültig erlangt, geschweige denn artikuliert werden. Aber er zeigt oder erneuert sich bei jeder Entscheidung, die getroffen werden muss, in dem, was man punktuelle Virtuosität nennen könnte. Um es ein wenig konkreter zu machen: So wie es sich in meinem übersetzerischen Alltag darstellt, ist es dieser Zustand der Nähe, der zu spüren erlaubt, ob es möglich ist, auf eine Übersetzung über Kreuz zurückzugreifen, wie zum Beispiel ein deutsches Adverb durch ein französisches Verb auszudrücken bzw. das Verb durch ein Adverb; der erlaubt zu wissen, ob es legitim ist, ein und dasselbe Wort in der Übersetzung je nach Kontext zu variieren; oder, um ein letztes Beispiel zu nennen, zu wissen, wann man ein deutsches Adjektiv mit einem Attribut übersetzt. Warum? Der Gebrauch des Adjektivs stellt eine Art doppelte Funktion dar, die im Deutschen stärker zum Tragen kommt als im Französischen. Diese doppelte Bedeutung beinhaltet zum einen die Funktion einer Qualifizierung und zum anderen eines attributiven Genitivs. Oft decken sich diese zwei Bedeutungen, aber das ist nicht immer der Fall. Beispiel: „un problème subjectif“ kann sowohl „ein Problem, das mit der Subjektivität zusammenhängt“ als auch „ein Problem des Einzelnen (Subjekts)“ bedeuten. Der Unterschied ist im folgenden Beispiel noch auffälliger: „solde migratoire“. „Migratoire“ wird hier nicht als qualifizierendes Adjektiv verwendet, im Sinne von „der Saldo, der zuwandert“, sondern in seiner Funktion als attributiver Genitiv: „der Saldo der Zugewanderten“. In der Psychoanalyse gibt es dazu das Standardbeispiel des Begriffs „infantile Amnesie“, was lange Zeit mit „amnésie infantile“ ins Französische übersetzt wurde, wohingegen das deutsche Adjektiv infantil hier in seiner Funktion als Genitiv benutzt wird, da der Begriff die Amnesie der Kindheit bezeichnet.

Natürlich lässt es der Kontext zu, den Begriff im Sinne eines Vergessens der Kindheit zu erschließen. Doch die Lektüre ist in erster Linie linear, der Kontext kommt erst im Nachhinein, er kann etwas „aufholen“, wie Jean-Pierre Lefebvre sagen würde, doch die Prägnanz geht verloren. Als Interpret der Sprache eines Textes muss man gewissermaßen dramaturgische Entscheidungen darüber treffen, in welcher Weise die Linearität der Lektüre und die generelle Ökonomie des Textes in Einklang zu bringen sind. Es ist also immer das passive Wissen im Sinne eines interpretativen und nicht kreativen Wissens, das über dramaturgische Fragen oder den Verlauf einer Idee zu entscheiden erlaubt. Ich meine damit z. B. die Frage, ob man einen Satz umdrehen darf, ohne dass dabei der Gedankengang abgeschwächt wird, oder ob man ein Verb durch ein Adverb wiedergeben darf, wenn man damit die Entwicklung eines Konzepts beibehalten kann, oder etwas allgemeiner, bei der Übersetzung vom Deutschen ins Französische, das gängige Problem der Diskrepanz zwischen der Flexibilität der deutschen Syntax – die vielleicht die Kehrseite, den Gegenpol zu seiner strengen Grammatik darstellt – und der Strenge der französischen Syntax in ihrer vorherrschenden Abfolge von Subjekt, Prädikat, Objekt. Ein typisches Beispiel für diese Schwierigkeit ist das Voranstellen des Objekts, was im Deutschen natürlich und gängig ist und dem Objekt einen gewissen Vorrang, eine leichte Betonung verleiht. Wenn man ins Französische übersetzt, steht man vor der Wahl: Entweder man verzichtet auf diese Betonung oder man beginnt den Satz mit einer hervorhebenden Wendung wie „C’est … que“, um die Wortstellung beizubehalten. Doch der deutsche Leser ist an die häufige Umstellung von Satzgliedern gewöhnt, also nicht nur von Objekten, sondern auch von Prädikaten oder sogar ganzen Sätzen (Mich hat eine Frage erreicht …, Eingeladen hatte Herr Soundso …). Wodurch die hervorhebende Wendung im Französischen eher eine Überbetonung des deutschen Satzes in Bezug auf das Objekt zur Folge hat. Verzichtet man im Gegenteil auf die Inversion, findet automatisch eine Art Ausgleich beim französischen Leser statt, der an die Struktur Subjekt – Prädikat – Objekt und an seine Wiederholung gewöhnt ist.

Gerade in diesen Zwischenräumen, den fehlenden lexikalischen, aber auch und in erster Linie syntaktischen Übereinstimmungen, ist man als Übersetzer dem Nachdenken ausgesetzt, und zwar nicht unter der Wirkung eines Wissens im eigentlichen Sinn, eines aktiven Wissens, sondern unter dem Drängen des Originaltextes und seiner Reibungen mit der Zielsprache. Denn in den Wendungen und syntaktischen Effekten, ob kühn oder gänzlich orthonym, liegt nicht nur die Intonation, die Stimme des Textes, sondern oft sind sie auch Träger eines Teils der Textaussage. Dazu gibt es das Beispiel eines Satzes von Hegel, den Jean-Pierre Lefebvre aufnimmt: „Wenn wir uns fragen“ – „Quand nous nous posons la question“. Im Französischen kann man die Betonung sowohl auf das Fragen legen, als auch auf das wir („nous“), wir Philosophen, die die Dinge vom 19. Jahrhundert aus betrachten, während wir über etwas sprechen, das sich in der antiken Philosophie abspielt. „Wenn wir uns fragen“ könnte man also mit „C’est nous qui nous posons la question“ übersetzen: wir fragen uns das, nicht jener antike Philosoph. Man muss also, im Sinne einer Interpretation, umformen, um das zu erzeugen, was in Hegels Rede ein intuitives Element ist.

In Deleuzes Critique et Clinique findet sich folgender berühmte Satz: „La syntaxe est l’ensemble des détours nécessaires chaque fois créés pour révéler la vie dans les choses“ (12) („Syntax ist die Gesamtheit aller notwendigen Umwege, die man jedes Mal macht, um das Leben in den Dingen zu offenbaren.“). Bei jeder fehlenden Entsprechung, auf die man stößt, ertappt man sich dabei, aufs Neue und mit anderen Mitteln das nachzudenken, was bereits gedacht wurde, es „erneut zu offenbaren“. Doch von etwas zu sprechen, das bereits gedacht sein soll, bevor es sprachlich fixiert wird, heißt, einen von seiner sprachlichen Form, seiner Materialität abweichenden gedanklichen Inhalt zu abstrahieren, heißt, von der Existenz einer Substanz „Gedanke“ auszugehen, die von ihrem Körper unabhängig ist. Die sicherlich intimste Erfahrung des Übersetzers ist die ständige Konfrontation, das dauernde Ausloten der Grenzen der Referenzialität und der Darstellbarkeit der Sprache.

Es gibt einen Grenzfall der Verkörperung des Denkens, der den Übersetzer immer etwas ratlos zurücklässt: Ich meine die Äquivalenz des Wortspiels, die mein Übersetzerkollege Matthieu Dumont den „Reimnachweis“ nennt, dieser dramatische Effekt, bei dem die phonetische und mehr oder weniger etymologisch begründete Nähe zweier Signifikaten ins Spiel gebracht wird, um einen Gedankengang zu bekräftigen. Für mich schwer nachvollziehbar ist hingegen der Umstand, dass man aus den berühmten „Unübersetzbaren“ einen Sonderfall der Übersetzung macht, quasi eine Liste zum Nachschlagen. Denn das heißt nichts anderes, als eine bindende Bijektion zwischen einem Signifikanten und dem Inhalt eines Gedankens festzulegen, als bildeten sie einen absoluten Ausnahmefall zur restlichen Lexik, außerhalb jedes Kontextes, jeder Syntax und im Grunde außerhalb jedes Denkprozesses. Dabei erlebe ich als Übersetzer jeden Tag diesen Schwebezustand zwischen zwei Formulierungen, bei dem man sich mal am Wortlaut, mal am Sinn festhält, um das zu greifen, was sich jeweils hinter dem anderen zu verbergen sucht. Um es mit den Worten von Rodolphe Gasché auszudrücken: Man trifft auf den „asemischen Kern“ der Sprache, erlebt sein permanentes Entwischen aus den Fängen der Bedeutung, und damit das In-Bewegung-Bleiben der Übersetzung als kontinuierlicher Prozess des Verschiebens. Das Original stellt also das Bezugsobjekt in einer Kette von „Umstellungen in der Reproduktion“ dar. Mir scheint, dass dieses „Denken ohne zu wissen“, dieses dem Übersetzer eigene Denken, sich dergestalt darstellt, die Bewegung des Textes nachzuempfinden und anschließend auf differenzielle Weise zu reproduzieren.

Nach Hans-Jörg Rheinberger übertrage ich die Derrida’schen Begrifflichkeiten der Epistemologie auf die Aufgabe des Übersetzers. In einem 2016 in Paris gehaltenen Vortrag unter dem Titel Derrida übersetzen hatte der Molekularbiologe, Epistemologe und Übersetzer unter anderem der Grammatologie eine Analogie gezogen zwischen seiner Erfahrung als Übersetzer und der naturwissenschaftlichen Forschung, die er mit leidenschaftlichem Interesse für das Pre-konzeptuelle, das Ungesagte, das Konkrete der experimentellen Praxis durchführte. Er prägte das Konzept der „Experimentalsysteme“, um die Vorrichtungen oder Zusammenstellungen zu beschreiben, aus denen die effektiven Arbeitseinheiten der gegenwärtigen Experimentalwissenschaft bestehen. Diese Einheiten sind gleichzeitig lokal, individuell, institutionell, instrumental – also ausgestattet mit eigenen Instrumentarien – und vor allem aber epistemisch. Diese Experimentalsysteme verfahren mithilfe „differentieller Reproduktion“ ein und desselben Experiments, mit dem Ziel, Neues, nicht antizipierbare Ereignisse, empor zu fördern. So betrachtet sind Experimentalsysteme „Zukunftsmaschinen“. Anlässlich seines Vortrags über das Übersetzen von Derrida stellte Rheinberger eine Art „generalisierende Übersetzung“ vor, im stark verallgemeinernden Sinne einer jeglichen Operation, die eine Transformation von Zeichen in andere Zeichen, von Spuren in andere Spuren vornimmt, doch im ansonsten sehr engem Sinne von „differentieller Reproduktion“ in Opposition zu Reproduktion als Produktion einer Nachbildung.

Um die Idee der „differentiellen Reproduktion“ zu veranschaulichen, werde ich ein Beispiel aus eben jenem Werk Rheinbergers anführen, in dem er das Konzept der Experimentalsysteme darlegt: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Es handelt sich dabei um ein Konzept, das mir generell bei der Übersetzung der Texte von Rheinberger Probleme bereitete und im Zentrum seines Denkens steht: das Konzept der Darstellung. Ein auf besondere Weise polysemischer Begriff. Bekannt ist er aus unterschiedlichen epistemischen Kontexten, vor allem aus der Psychoanalyse. Bei Rheinberger ist es ein wichtiges Konzept, weil es eines der lexikalischen Werkzeuge ist, das er einsetzt, um die Idee der Repräsentation in Frage zu stellen, und insbesondere die traditionelle Auffassung der Wissenschaft als Bild, als theoretisches Abbild der Natur und der Realität. Er verwendet den Begriff bewusst synonymisch mit Repräsentation, gerade um die Repräsentation in Frage zu stellen, um einen Anstoß zu geben, mit der Absicht, eine andere Bedeutung von Darstellung einzuführen:

Darstellung ist hier grundsätzlich in dem Sinne zu verstehen, in dem die alte Sprache der Chemie den Begriff verwendet, wenn sie mit ihm den Prozeß der Produktion, Charakterisierung, Isolierung und Reinigung eines Stoffes verbindet. Man wird sehen, daß eine derartige Verwendung des Begriffs dazu führt, seine klassische Konnotation, nämlich etwas zu sein, das für etwas anderes steht, gründlich unterminiert. (Experiment, Differenz, Schrift, 29)

Allerdings hat Rheinberger den Text Experimentalsysteme und epistemische Dinge zunächst auf Englisch verfasst und ihn anschließend ins Deutsche übersetzt. Der Begriff Darstellung taucht in der englischen Fassung gar nicht auf. Dort ist die Rede allein von representation. Gewiss spielt er mit der Polysemie des Begriffs im Englischen, umso mehr als representation die englische Übersetzung für Darstellung im Sinne Freuds ist. Es hat also der deutschen Übersetzung bedurft, um diesen wesentlichen Unterschied einzuführen. Die Einführung dieses subkritischen Unterschieds, die im Inneren der Sprache eine Spalte öffnet, wurde erst durch die Reproduktion in einer anderen Sprache ermöglicht.

In dieser Hinsicht kann man vom Übersetzen als „produktives Verschieben“ sprechen. Zunächst steht da immer der Verlust, das Unübersetzbare, die fehlende Entsprechung. Doch an ihre Stelle tritt die Zugabe, die Ergänzung. Die Übersetzung stellt sich also als Ergänzungsprozess dar. Die Behauptung, dass eine Übersetzung erst durch ihren unweigerlichen Misserfolg produktiv werden kann, ist nicht neu, ebenso wenig wie jene, dass ein Übersetzer jemand ist, der nach fehlenden Entsprechungen regelrecht sucht und jagt. Denn dort wird er dazu genötigt, zu interpretieren, nachzudenken.

Ich greife ein weiteres Mal auf Rheinberger zurück, den ich hier so häufig bemühe, weil es mir vorkommt, als übe er das Übersetzen allein zum Zwecke des schöpferischen Denkens aus. Ein Beispiel, das eben dieses Phänomen veranschaulicht: Der allererste Satz, den ich für einen Verlag zu übersetzen hatte, war aus Iterationen, ein schmales Bändchen von Hans-Jörg Rheinberger. Es handelte sich um eine Sammlung epistemologischer Texte, in denen jeder Satz Zeugnis ablegte über den generationsübergreifenden Austausch von Konzepten zwischen Frankreich, Deutschland und den englischsprachigen Ländern. Der besagte Satz war ein dem Text vorangestelltes Zitat von Derrida und er lautete im Original: „Pour faire quelque chose, il faut faire plus que ce que l’on peut faire.“ Im Deutschen klang der Satz folgendermaßen: „Um etwas zu schaffen, muss man darüber hinausgehen, was man beherrscht.“ Es handelte sich hier um ein frappierendes Beispiel produktiven Verschiebens, buchstäblich einer Art Iteration, denn dank seiner Reproduktion, unter der Wirkung einer sehr interpretierenden Übersetzung, war der Satz regelrecht angeschwollen und gleichzeitig deutlicher geworden. Dies ist mehr oder weniger ein anekdotisches Beispiel, aber es hat den Vorzug, dass man daran sehr gut zeigen kann, wie die Übersetzung vom Falten und Knicken eines Textes profitiert, ja sogar, wie im vorliegenden Fall, seiner Glättung. Rückblickend denke ich, die Rückübersetzung, die Zurücksetzung, die Wiederherstellung des Originals war vielleicht doch nicht die ideale Lösung, und es wäre angemessener gewesen, getreu der Vorlage, eine Fortsetzung des iterativen Spiels vorzuschlagen.

Um diese Derrida’schen Ausführungen abzuschließen – der Umstand, dass Derridas erstes Werk eine Übersetzung war, ist in diesem Zusammenhang übrigens sicherlich nicht unbedeutend –, möchte ich gern noch einige Worte zu dem hinzufügen, was ich das „gefährliche Supplement“ des Übersetzers nenne: die Anmerkung. In der Grammatologie unterscheidet Derrida zwischen zwei Typen von Zusatz und unterstreicht den Charakter des Weiterverweisens, der dem Supplement innewohnt (208). In der Übersetzungspraxis ist es absolut gängig zu entstellen, auf Überartikulationen zurückzugreifen, umzuleiten, zu umgehen, ja sogar umzuschreiben, um dem Originaltext gerecht zu werden. Doch die Anmerkung des Übersetzers bildet insofern einen „gefährlichen“ Zusatz, als sie eine Wirkung erzeugt, die dem zu ergänzenden Medium entgleitet, indem sie einen teilweise unwesentlichen Auswuchs der eigentlichen Übersetzung darstellt und Tür und Tor öffnet für Kommentare und wissenschaftliche Verweise. Obwohl sie eine weitere Möglichkeit bietet, zu entfalten und zu ent-decken, was der Text beinhaltet, ist die Anmerkung nichtsdestoweniger singulär, denn sie markiert den Endpunkt der Übersetzung als Übersetzung. Doch als eine dem Übersetzer fast immer zur Verfügung stehenden Möglichkeit, erinnert sie daran, dass die „Übersetzung, naturgemäß interpretativ, dem Kommentar den Weg bereitet“ (Pascale Sardin).

Das Problem der Anmerkungen beschäftigt mich derzeit in besonderem Maße, da ich gerade einen Band von Alexander Kluges Chronik der Gefühle übersetze. Auch wenn das Werk nicht in den Bereich der Geisteswissenschaften fällt, möchte ich dennoch dieses Beispiel ausführen, denn es scheint mir den besonderen Gebrauch der Anmerkungen des Übersetzers herauszustellen. Das Fünfte Buch, so der Titel den ich übersetze, ist ein Werk bestehend aus 402 Geschichten, vom Umfang drei Zeilen bis drei Seiten umfassend, die oft anekdotenhaft und anhand ausschweifender Details bestimmte Schlüsselmomente oder Fakten der Universalgeschichte schildern, aber auch Situationen des Familien- und Liebeslebens sowie einzelne Lebensgeschichten nachzeichnen. Diese kurzen Texte, die aufgrund ihres narrativen Aufbaus weder Erzählungen sind, noch Fragmente, denn jeder stellt für sich ein abgeschlossenes Ganzes dar, erzeugen mithilfe ständig wechselnder Mittel – den Namen einer Figur, das Aufgreifen ein und desselben Begriffs, die Wiederholung eines Motivs oder eines Gedankens – ein Echo und knüpfen so über Jahrzehnte, Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende hinweg Verbindungen zwischen Gefühlen, die die Menschheit ausmachen. Dem Werk, das von Kluges profunden Geschichtswissen lebt, ist ein Vorwort vorangestellt, in dem man folgende Präzisierung findet: „Die Geschichten sind teils erfunden, teils nicht erfunden“. Was ist das Problem dabei? Diese Chronik der Gefühle, die nicht zufällig Chronik heißt, führt eine ganze Reihe realer historischer Ereignisse und Persönlichkeiten an. Zum Großteil handelt es sich um Persönlichkeiten der Weltgeschichte, doch nicht wenige sind ausschließlich dem deutschsprachigen Leser bekannt. Um den Echoeffekt der Texte beizubehalten und damit die Wirkung wiederzugeben, die beim Lesen des deutschen Originals erzeugt wird, wäre es für den französischen Leser hilfreich, durch Anmerkungen die fehlenden historischen Details zu ergänzen, die zur Herstellung der Verknüpfungen zwischen den einzelnen Geschichten nötig sind – und ohne die dem Leser dieser Effekt eines hallenden Hohlraumes entginge. Doch Anmerkungen (von denen im Original kaum welche zu finden sind, und wenn, dann nur mit eher unterhaltsamen Erläuterungen) in den Text zu integrieren hieße, die vom Autor im Vorwort eingegangene Abmachung zu unterlaufen, denn ein historisches Element zum Zwecke des Verständnisses mit einer Anmerkung zu versehen bedeutet, es mit einem Kennzeichen historischer Authentizität zu belegen, und verweist indirekt auf das, was nicht in den Bereich der Geschichte fällt. Damit spielt man sich als Übersetzer allerdings zu einer Art Garanten des zu beherrschenden Wissens auf, wo das eigentliche Leseerlebnis in einem narrativen Feuerwerk des Wissens besteht, das die Grenze zwischen Geschichte und Fiktion aufhebt. Eine radikale Lösung wäre, gänzlich auf jedwede Anmerkung zu verzichten und dem Leser des 21. Jahrhunderts zu vertrauen, einem Leser, um Michel Butor zu zitieren, der von Verweis zu Verweis surft und über Grenzen hinweg, vor allem über die Grenzen des Mediums Buch hinaus, nach Informationen sucht.

Selbst wenn sich das Problem der Anmerkungen des Übersetzers in den Geistes- und Sozialwissenschaften anders als in der Literatur stellt – und vielleicht sogar eine Art Trennungslinie zwischen diesen beiden Texttypen zieht –, möchte ich mit dieser Figur des heutigen Lesers schließen, denn ich frage mich, ob sie nicht für wissenschaftliche Texte ebenso entscheidend ist, und besonders für ein Projekt wie Dedalus.


 

Literatur

Deleuze, Gilles. Critique et clinique. Paris: Éditions de Minuit, 1993.

Derrida, Jacques. De la grammatologie. Paris: Éditions de Minuit, 1967.

Feyerabend, Paul. Naturphilosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009. Übers. Arthur Lochmann. Paris: Seuil, 2014.

Fleck, Ludwig. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980.

Kluge, Alexander. Chronik der Gefühle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000. Übers. Pierre Deshusses. Paris: Gallimard, 2003.

Rheinberger, Hans-Jörg. Experiment, Differenz, Schrift. Marburg: Basilisken-Presse, 1992.

Rheinberger, Hans-Jörg. Toward a History of Epistemic Things. Stanford: Stanford University Press, 1997. Übers. Hans-Jörg Rheinberger. Göttingen: Wallstein, 2001. Übers. Arthur Lochmann. Paris: Classiques Garnier, 2017.

Rheinberger, Hans-Jörg. Iterationen. Leipzig: Merve, 2005. Übers. Arthur Lochmann. Paris: Presses du Réel, 2013.

Riegl, Aloïs. Der moderne Denkmalkultus, sein Wesen und seine Entstehung. Wien: Braumüller, 1903. Übers. Matthieu Dumont und Arthur Lochmann. Paris: Allia, 2016.

Sardin, Pascale. „De la note du traducteur comme commentaire : entre texte, paratexte et prétexte“. Palimpsestes 20 (2007, Onlinestellung September 2009), journals.openedition.org/palimpsestes/99. Letzter Zugriff 22. März 2018.

Simmel, Georg. „Philosophie der Mode“. Moderne Zeitfragen 11 (1905): 5–41. Übers. Arthur Lochmann. Paris: Allia, 2013.